Rede von dem Journalist Shi Ming auf der Vernissage am 01.09.2018
Sehenswert in Dreifaltigkeit
Von Ming Shi
Ein fotografiertes Schulgelände, irgendwo in einer chinesischen Stadt. Im Hintergrund zwei verwaiste Schornsteine, aus denen schwärzlicher Rauch emporsteigt. Ein zweites Bild zeigt das gleiche Gelände aus einer anderen Perspektive. Zu sehen ist ein neu gebautes Hochhaus-Wohngebiet aus Gießbeton, gleichförmig, in Reih und Glied, wie eine Terrakotta-Armee, reglos auf große Parade wartend. Auf dem dritten Foto schwärmt eine Gruppe Kinder vom Schulhof. Schwer zu sagen, ob die Kinder erschöpft oder erbaut den Schultag hier und jetzt beendet haben.
Diese und weitere Fotos lassen zuerst etwas Journalistisches vermuten, eine Reportage, sozial-kritisch oder politisch ironisierend. Ihre Autoren sind aber drei chinesische Maler, die sich über ein Jahr einem Kunstprojekt gewidmet haben. „Die neuen Acht Szenerien einer Stadt - Qingdao“ nennen sie ihr Werk, das ab heute dem deutschen Publikum präsentiert wird.
Was ist dabei so sehenswert?
Kein Baumonument ist zu bewundern, kein epochales Experiment von Star-Architekten zu bestaunen, und keine leistungsstarken Baumaschinen, die, in zahlreichen journalistischen Fotos festgehalten, seit Jahrzehnten Beweise für Chinas Umwälzung liefern. Beweise, die insbesondere die kapitalistisch-westliche Welt neidisch bis besorgt aufstöhnen lassen: Wie schnell katapultiert sich das Land aus der Armut heraus! Oder: Wo würde dieses China in zehn Jahren stehen, weit vor den USA, der Nummer eins von heute, und dann? Nein, sehenswert ist hier von alldem nichts.
Dafür stechen Prozesse ins Auge, die aus verschiedenen Perspektiven unterschiedliche Geschichten erzählen. Dies zeitgleich: Geschichte, wie die massive Gleichförmigkeit als moderne Stadtkrankheit entsteht, jede Individualität in Form und Farbe erstickend; Geschichte, wie, einst als Symbole für Fortschritte der Industrialisierung gefeiert, Schornsteine mehr an Luftverschmutzung denn an Eisen und Stahl erinnern, daran, wie Menschen der chinesischen Städte Atemnot verspüren; kaum daran, wie aus Eisen und Stahl Maschinen für „schneller, höher und weiter“ gemacht werden. Geschichte, wie Chinas nächste Generation nach maschinellen Leistungsprinzipien Tag für Tag im Schulalltag geformt wird. Nicht nur werden ähnliche Ambitionen genährt, nämlich irgendwann im Westen an irgendeiner Star-Universität pauken zu dürfen; auch lernen die Kinder meist erstaunlich ähnliche Angst kennen, auf der Leiter nach oben zu versagen, irgendwie…
Gastieren hier drei Künstler als scharfsinnige Sozialreporter, die in Verfremdung fotographischer Beobachtungen einer sich ständig wandelnden Urbangesellschaft ihre Wahrheit suchen und finden? Das allein würde eine kleine Revolution im gegenwärtigen China bedeuten, dort, wo die meisten Künstler gemäß westlichem Vorbild nach extremen, bisweilen extravaganten Formsprachen eines exklusiven Individualismus jagen, dort, wo nach Ai Weiwei heute nur noch selten jemand den Mut findet, des Künstlers Augenmerk auf Chinas Gesellschaft zu lenken. Das allein wäre schon sehenswert.
Doch die Künstler gehen weiter. Wie Soziologen sammeln sie Proben, möglichst umfassend, so nach dem Motto: Je präziser aufbereitete Proben, desto wirklichkeitsnaher ihre Reflektion über Chinas Urbanität heute. Dazu gehören: Glanz und Glamour der Stahl-Glas-Fassade eines Bankturms, Szenen eines Shopping-Malls, Bauland mitsamt Bauruinen, zudem ein Kontrastprogramm zum Urbanleben, nämlich Szenen aus ländlichen Regionen, wo Chinas neue Städter herstammen – etwa aus bergischen Dörfern. Das Sehenswerte hier: Es geht bei ihrem Werk längst nicht mehr um spontane, geniale Einfälle einzelner Künstler, die vor der Kulisse einer vorselektierten Realität ihre Imaginationen auskosten.
Vielmehr – auch dies ist besonders sehenswert – dienen ihre künstlerisch-kreative Assoziationen dazu, eine scharfsinnig portraitierte Urban-Wirklichkeit im China von Heute tiefsinniger Reflexion zuzuführen. Hier zeigen sich die Künstler beharrlich, ihre realen Eindrücke „flächendeckend“ neu zu komponieren. Oder wie Ni Shaofeng, einer der hier ausgestellten drei Künstler bemerkte: „Alle sechs Seiten eines kubischen Objektes müssen auf einer papiernen Fläche entfaltet und neu komponiert werden“.
Also kommt das Mao-Konterfei aus der „Proletarischen Kulturrevolution“ auf die gleiche Fläche mit grellen Leuchtfarben, die an Neonlichter profitsüchtig machender Werbeindustrie der Globalisierung erinnern. Gibt es etwas trefflichere Satire über zeitgenössische Anachronismen, die viele Chinesen seit Jahren zusammenfassen als „nach links blinken, - zurück in die Mao-Ära -, um nach rechts abzubiegen, tiefer in die Fänge von Wall-Street“? An einer anderen Stelle gesellen sich Backsteinmuster, verfremdet in altkalligraphische Streifen aus chinesischer Antik, zu Bruchstücken städtischer Betonwälder, die realiter jegliche Backstein-Kultur als zeitunwürdig längst verdrängt haben. Tut sich hier eine postmoderne Dialektik kund, die global gilt: Erst versuchen, alte Erinnerungen zu verbannen, um sie dann nostalgisch, halbverschämt zu vermissen?
Spätestens hier begeben sich die Künstler aus ihren Rollen als Gesellschaftsreporter und Soziologen heraus tief in die dritte Rolle hinein - als Philosophen, die, nicht schwadronierend wortreich, mit allen Sinnen, einschließlich Scharf- und Tiefsinn, uns eine chinesische Urban-Realität präsentieren. Bildlich und bilderreich.
Und für mich persönlich ist die Ausstellung ihres Kunstwerkes umso sehenswerter – dank unserer Zeit, die viele im Westen bereits als „postfaktische Ära“ quittiert haben, eine Ära, in der jede Suche nach Realität, geschweige denn nach tief reflektierter Wahrheit, schon Fake-News bedeutet.