Das Antlitz des Vierten Mai
Vernissage: 17:00, 4. Mai. 2019
Weltethos-Institut, Hintere Grabenstr. 26, 74070 Tübingen
04.05.2019-30.05.2019
Rede anlässlich der Ausstellung DAS ANTLITZ DES VIERTEN MAI im Weltethos-Institut Tübingen
Hielte ich diese Rede auf Chinesisch, so würde ich sie mit einem Satz wie 五四是中国人一百年解不开的心结 beginnen,auf Deutsch: Der Vierte Mai ist ein Herzensknoten, den die Chinesen nach hundert Jahren noch nicht zu lösen imstande sind. Das Bild des Herzensknotens wird in der chinesischen Tradition verwendet, um ein emotionales Dilemma, eine innere Frustration, eine ausweglose Situation zu bezeichnen. Die Sinologen unter Ihnen kennen sicherlich diese bekannte Zeile vom großen Poeten, Du Fu: 何日见宁岁,解我凝思结. „Wann werde ich Tage des Friedens sehen, die meine Kummer, oder meine Herzensknoten lösen?“ Aus einem inneren Konflikt, aus einer verfahrenen Situation kann man sich durch radikale Maßen befreien. Der Gordische Knoten wurde bekanntlich durchgeschlagen.
Im vergangenen Jahrhundert sah China ein solches „Experiment“. Angesicht der Not, in die das Land geraten war, sahen sich viele der Akteure der Vierten Mai Bewegung gezwungen, sozial riskante Wege einzuschlagen. Zwischen Aufklärung 启蒙und Rettung der Nation 救亡 bot die letztere eine schnelle und effektive Lösung, so schien es vielen Intellektuellen damals. Aus der Warte der Gegenwart sind die Probleme solch radikaler Lösungen immer deutlich: Aus einem Zusammenrücken, 团结 auf Chinesisch, können Aufstauungen, 郁结 entstehen.
Es wäre an der Zeit, sich mit dem Vierten Mai tiefgehend zu befassen, die komplizierten Verknüpfungen genau zu analysieren, sich ein klares Bild zu machen und um behutsame und geschickte Lösungen zu bemühen. Aber dies kann aus bekanntem Grund zurzeit in China noch nicht geschehen. Daher bin ich dem hiesigen China Zentrum und dem Weltethos-Institut und der Universität Tübingen sehr dankbar, dass sie Herrn Prof. Deng, der heute leider nicht anwesend sein kann, und mir die Gelegenheit geboten haben, unsere künstlichen Aufarbeitungen hier zu präsentieren.
Aus Sicht der bildenden Kunst, ist der Vierte Mai weitgehend gesichtslos geblieben. Abgesehen von einigen staatlich sanktionierten Darstellungen, gibt es fast keine künstlerischen Auseinandersetzungen mit diesem epochalen Ereignis. Wie Sie wissen, ist der Zündstoff zu dieser Bewegung eine nationale Kränkung und Erniedrigung: Während der Aushandlung des Friedensvertrags von Versailles auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 wurde die Absicht der Hauptsiegermächte Großbritannien und Frankreich deutlich, die Einundzwanzig Forderungen Japans von 1915 anzuerkennen und die deutschen Niederlassungen in der Provinz Shandong (Kiautschou) an Japan zu übergeben. Für die Studenten und Intellektuellen damals bedeutet dies eine nationale Blamage, ein blamierender Gesichtsverlust Chinas,
In jedem von Herrn Dengs Bildern verbergen sich eigentlich drei Gesichte, ein Foto vom Gesicht eines wichtigen Akteures der Zeit und dessen malerische Interpretation wurde mit einem aus einer Fotodatenbank ausgewählten Gesichter eines jungen Chinesen von heute zusammengefügt und auf Leinwand gebracht.
Meine Installation besteht aus verknoteten Seilen, die zwei Gesichter suggerieren. Ursprünglich habe ich insgesamt zehn Gesichter geplant, die in einer dreidimensionalen Konstellation angebracht werden sollte. Aus räumlichen Gründen habe ich den ursprünglichen Plan fallengelassen und eine modifizierte Lösung gesucht.
Ich hoffe, dass unsere Werke für sich sprechen., Daher möchte meine Rede damit beenden, meine Dankbarkeit auszusprechen: Fran Dan-Wie Zhu-Mittag, die mit ihren ausdrucksvollen kalligraphischen Interpretation unserer Ausstellung bereichert hat. Herr Professor Mittag, vielen Dank für Ihren unermüdlichen Einsatz, ohne den diese Ausstellung nicht zustande gekommen wäre! Herr Dr. Villhauer, vielen Dank, dass Sie uns die Möglichkeit gegeben haben, im Ihrem Haus, diesem bedeuteten Institut der internationalen Verständigung und Zusammenarbeit, unser Arbeiten zeigen zu dürfen! Ich möchte mich bedanken bei der Studierenden der Universität Tübingen. Vielen Dank für Ihre Hilfe und Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Ausstellung
Lieber, Gäste, vielen Dank für Ihr Kommen!
Ich wünsche Ihnen allen einen guten Abend!
Rede von Prof. Dr. Fröhlich auf der Vernissage am 01.09.18
Der Titel der Ausstellung – „Neue Acht Szenerien einer Stadt – Qingdao“ – ist anspielungsreich. „Acht Ansichten“ sind in der Tradition ostasiatischer Dichtkunst sowie Mal- und Zeichenkunst eine weit verbreitete Bezeichnung. Die Anfänge dieses Genres reichen bis in die Dynastie der Nördlichen Song zurück, zu einem Werk des Universalgelehrten und kaiserlichen Beamten Shen Kuo, das um das Jahr 1088 entstand und acht Ansichten von Xiaoxiang, einer Region in Hunan, zeigt. Danach entstanden über die Jahrhunderte viele Variationen von „Acht Ansichten“ in der Form von Gedichten, Werken der Malerei und Zeichnungen, oft auch in Kombination miteinander.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Ich darf den hier anwesenden Künstlern aus China, und insbesondere unserem Kollegen Ni Shaofeng, die herzlichen Glückwünsche der Hamburger Sinologie zu dieser Ausstellung überbringen.
Der Titel der Ausstellung – „Neue Acht Szenerien einer Stadt – Qingdao“ – ist anspielungsreich. „Acht Ansichten“ sind in der Tradition ostasiatischer Dichtkunst sowie Mal- und Zeichenkunst eine weit verbreitete Bezeichnung. Die Anfänge dieses Genres reichen bis in die Dynastie der Nördlichen Song zurück, zu einem Werk des Universalgelehrten und kaiserlichen Beamten Shen Kuo, das um das Jahr 1088 entstand und acht Ansichten von Xiaoxiang, einer Region in Hunan, zeigt. Danach entstanden über die Jahrhunderte viele Variationen von „Acht Ansichten“ in der Form von Gedichten, Werken der Malerei und Zeichnungen, oft auch in Kombination miteinander. Diesen Werken war gemein, dass sie Ansichten von schönen Szenerien zeigten, in welche eine gebirgige Landschaft oder eine Ortschaft eingelassen sein konnte. Bis ins 20. Jahrhundert finden sich viele Beispiele hierfür, und zwar nicht nur in China, sondern auch in Korea und Japan – etwa die Acht Ansichten aus der alten Provinz Ōmi, die der japanische Farbholzschnittmeister Utagawa Hiroshige im 19. Jahrhundert anfertigte.
Die Werke der aus Shandong stammenden Künstler, denen wir heute hier begegnen, entfernen sich bewusst von der Tradition der Acht Ansichten. Andere Materialien und andere Techniken werden eingesetzt. Etwa die Fotografie, welche die Werke im wortwörtlichen Sinne unterlegt. Auch der Gegenstand der Betrachtung ist ein anderer. Es geht nun nicht mehr um Ansichten, die im herkömmlichen Sinn „schön“ und wohlgefällig sind, sondern um das moderne Qingdao mit all seinen Facetten. Wer übrigens, wie es der Titel dieser Ausstellung macht, von der „Stadt“ Qingdao spricht, nimmt einen überschaubaren Zeitraum in den Blick. Die städtische Entwicklung von Qingdao setzte vor ziemlich genau 120 Jahren ein. Noch zu Beginn der 1890er Jahre war Qingdao ein Fischerdorf gewesen, in der Nachbarschaft militärische Anlagen zur Verteidigung der Küste. Ende der 1890er Jahre war Qingdao als Teil der Region Jiaozhou unter dem Druck deutscher Kanonenboot-Politik Pachtgebiet des Deutschen Kaiserreichs geworden. Für die Stadtentwicklung war dies eine bedeutsame Phase und sie hat sichtbare Spuren bis in die Gegenwart hinterlassen.
Dies sind in gewisser Weise die Anfänge der Verstädterung von Qingdao. Allerdings würde man den gewaltigen Veränderungen, die sich gegenwärtig in Qingdao und vielen anderen Gebieten Chinas zutragen, nicht gerecht, würde man sie als historisch bekanntes Phänomen behandeln. Allein die Ausmaße der heuten Urbanisierung in China mahnen zur Vorsicht, wenn es um den Versuch geht, diese Vorgänge einzuordnen. Nach Angaben des Staatlichen Amtes für Statistik lebten 2017 rund 58% der chinesischen Bevölkerung in Städten. Zehn Jahre davor waren es noch 45% gewesen. Nach Schätzungen werden es bis 2030 rund 70% sein. In absoluten Zahlen ausgedrückt: heute leben 810 Millionen Menschen in China in Städten, 580 Millionen in ländlichen Regionen. 2007 hatte der größere Anteil der Bevölkerung noch in ländlichen Regionen gelebt, nämlich rund 710 Millionen gegenüber rund 610 Millionen in urbanen Gebieten. Wer einmal in China gereist ist, weiß allerdings, dass mit der Bezeichnung „ländliches Gebiet“ oder „Dorf“ oftmals keine bäuerliche Idylle verbunden ist, sondern für unser Empfinden fast schon urbane Verhältnisse – und diese sind oft alles andere denn pittoresk. Die Agglomeration Qingdao ist von dieser Entwicklung ebenfalls erfasst worden. 2017 lebten rund 5,3 Mio Einwohner in Qingdao, in etwa 20 Jahren sollen es in der gesamten Agglomeration rund 7 Mio sein.
Städtebaulich werden in Qingdao große Anstrengungen unternommen, um einer unkontrollierten Entwicklung hin zu einem Moloch, wie sie andernorts in China zu beobachten ist, Herr zu werden. Beispielsweise durch die Bestandswahrung an historischen Bauten. Die sozialen, ökonomischen und kulturellen Umwälzungen, die dieser Prozess mit sich bringt, sind in ihren Folgen aber schier unüberschaubar. Und auch politisch werden sich möglicherweise weitreichende Folgen ergeben. Die Prognosen der Statistiker mögen akkurat sein, aber was die enorme Urbanisierung für die chinesische Gesellschaft insgesamt bedeutet, wird sich erst noch weisen müssen.
Die Kunstwerke, die in dieser Ausstellung versammelt sind, befassen sich mit diesen Umwälzungen, aber sie tun dies, wie mir scheint ganz bewusst, ohne eine Deutung in den Raum zu stellen. Sie nötigen uns Betrachtern keine Interpretation oder gar Wertung auf. Vom Zwang zur Eindeutigkeit, wie ihn auch in China der sozialistische Realismus lange Zeit ausübte, und in der Staatskunst weiterhin pflegt, ist hier nichts mehr zu spüren. Damit entfällt auch die Pflicht des Kunstwerks, eine Wahrheit auszudrücken. Vielmehr stellen die Werke auf ihre je eigene Weise das Prozesshafte ihrer eigenen Entstehung in den Vordergrund. Mauern werden eingerissen, Verhältnisse auf den Kopf gestellt, eine Illusion von Transparenz wird enthüllt. Fragmente von realen Gegenständen werden hergestellt und neu arrangiert. Fotografien stehen am Ursprung des gesamten Projekts und auch der einzelnen Werke. Aber sie sind gleichsam in den Werken verschwunden. Wir werden hier als Betrachterinnen und Betrachter ausdrücklich zur Teilnahme an einem work in progress eingeladen. Die Ausdeutungen ergeben sich womöglich erst im Nachvollziehen der Werke. Das aber möchte ich Ihnen überlassen und mit einem Aphorismus von Theodor Adorno schließen: „Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“
Rede von dem Journalist Shi Ming auf der Vernissage am 01.09.2018
Sehenswert in Dreifaltigkeit
Von Ming Shi
Ein fotografiertes Schulgelände, irgendwo in einer chinesischen Stadt. Im Hintergrund zwei verwaiste Schornsteine, aus denen schwärzlicher Rauch emporsteigt. Ein zweites Bild zeigt das gleiche Gelände aus einer anderen Perspektive. Zu sehen ist ein neu gebautes Hochhaus-Wohngebiet aus Gießbeton, gleichförmig, in Reih und Glied, wie eine Terrakotta-Armee, reglos auf große Parade wartend. Auf dem dritten Foto schwärmt eine Gruppe Kinder vom Schulhof. Schwer zu sagen, ob die Kinder erschöpft oder erbaut den Schultag hier und jetzt beendet haben.
Sehenswert in Dreifaltigkeit
Von Ming Shi
Ein fotografiertes Schulgelände, irgendwo in einer chinesischen Stadt. Im Hintergrund zwei verwaiste Schornsteine, aus denen schwärzlicher Rauch emporsteigt. Ein zweites Bild zeigt das gleiche Gelände aus einer anderen Perspektive. Zu sehen ist ein neu gebautes Hochhaus-Wohngebiet aus Gießbeton, gleichförmig, in Reih und Glied, wie eine Terrakotta-Armee, reglos auf große Parade wartend. Auf dem dritten Foto schwärmt eine Gruppe Kinder vom Schulhof. Schwer zu sagen, ob die Kinder erschöpft oder erbaut den Schultag hier und jetzt beendet haben.
Diese und weitere Fotos lassen zuerst etwas Journalistisches vermuten, eine Reportage, sozial-kritisch oder politisch ironisierend. Ihre Autoren sind aber drei chinesische Maler, die sich über ein Jahr einem Kunstprojekt gewidmet haben. „Die neuen Acht Szenerien einer Stadt - Qingdao“ nennen sie ihr Werk, das ab heute dem deutschen Publikum präsentiert wird.
Was ist dabei so sehenswert?
Kein Baumonument ist zu bewundern, kein epochales Experiment von Star-Architekten zu bestaunen, und keine leistungsstarken Baumaschinen, die, in zahlreichen journalistischen Fotos festgehalten, seit Jahrzehnten Beweise für Chinas Umwälzung liefern. Beweise, die insbesondere die kapitalistisch-westliche Welt neidisch bis besorgt aufstöhnen lassen: Wie schnell katapultiert sich das Land aus der Armut heraus! Oder: Wo würde dieses China in zehn Jahren stehen, weit vor den USA, der Nummer eins von heute, und dann? Nein, sehenswert ist hier von alldem nichts.
Dafür stechen Prozesse ins Auge, die aus verschiedenen Perspektiven unterschiedliche Geschichten erzählen. Dies zeitgleich: Geschichte, wie die massive Gleichförmigkeit als moderne Stadtkrankheit entsteht, jede Individualität in Form und Farbe erstickend; Geschichte, wie, einst als Symbole für Fortschritte der Industrialisierung gefeiert, Schornsteine mehr an Luftverschmutzung denn an Eisen und Stahl erinnern, daran, wie Menschen der chinesischen Städte Atemnot verspüren; kaum daran, wie aus Eisen und Stahl Maschinen für „schneller, höher und weiter“ gemacht werden. Geschichte, wie Chinas nächste Generation nach maschinellen Leistungsprinzipien Tag für Tag im Schulalltag geformt wird. Nicht nur werden ähnliche Ambitionen genährt, nämlich irgendwann im Westen an irgendeiner Star-Universität pauken zu dürfen; auch lernen die Kinder meist erstaunlich ähnliche Angst kennen, auf der Leiter nach oben zu versagen, irgendwie…
Gastieren hier drei Künstler als scharfsinnige Sozialreporter, die in Verfremdung fotographischer Beobachtungen einer sich ständig wandelnden Urbangesellschaft ihre Wahrheit suchen und finden? Das allein würde eine kleine Revolution im gegenwärtigen China bedeuten, dort, wo die meisten Künstler gemäß westlichem Vorbild nach extremen, bisweilen extravaganten Formsprachen eines exklusiven Individualismus jagen, dort, wo nach Ai Weiwei heute nur noch selten jemand den Mut findet, des Künstlers Augenmerk auf Chinas Gesellschaft zu lenken. Das allein wäre schon sehenswert.
Doch die Künstler gehen weiter. Wie Soziologen sammeln sie Proben, möglichst umfassend, so nach dem Motto: Je präziser aufbereitete Proben, desto wirklichkeitsnaher ihre Reflektion über Chinas Urbanität heute. Dazu gehören: Glanz und Glamour der Stahl-Glas-Fassade eines Bankturms, Szenen eines Shopping-Malls, Bauland mitsamt Bauruinen, zudem ein Kontrastprogramm zum Urbanleben, nämlich Szenen aus ländlichen Regionen, wo Chinas neue Städter herstammen – etwa aus bergischen Dörfern. Das Sehenswerte hier: Es geht bei ihrem Werk längst nicht mehr um spontane, geniale Einfälle einzelner Künstler, die vor der Kulisse einer vorselektierten Realität ihre Imaginationen auskosten.
Vielmehr – auch dies ist besonders sehenswert – dienen ihre künstlerisch-kreative Assoziationen dazu, eine scharfsinnig portraitierte Urban-Wirklichkeit im China von Heute tiefsinniger Reflexion zuzuführen. Hier zeigen sich die Künstler beharrlich, ihre realen Eindrücke „flächendeckend“ neu zu komponieren. Oder wie Ni Shaofeng, einer der hier ausgestellten drei Künstler bemerkte: „Alle sechs Seiten eines kubischen Objektes müssen auf einer papiernen Fläche entfaltet und neu komponiert werden“.
Also kommt das Mao-Konterfei aus der „Proletarischen Kulturrevolution“ auf die gleiche Fläche mit grellen Leuchtfarben, die an Neonlichter profitsüchtig machender Werbeindustrie der Globalisierung erinnern. Gibt es etwas trefflichere Satire über zeitgenössische Anachronismen, die viele Chinesen seit Jahren zusammenfassen als „nach links blinken, - zurück in die Mao-Ära -, um nach rechts abzubiegen, tiefer in die Fänge von Wall-Street“? An einer anderen Stelle gesellen sich Backsteinmuster, verfremdet in altkalligraphische Streifen aus chinesischer Antik, zu Bruchstücken städtischer Betonwälder, die realiter jegliche Backstein-Kultur als zeitunwürdig längst verdrängt haben. Tut sich hier eine postmoderne Dialektik kund, die global gilt: Erst versuchen, alte Erinnerungen zu verbannen, um sie dann nostalgisch, halbverschämt zu vermissen?
Spätestens hier begeben sich die Künstler aus ihren Rollen als Gesellschaftsreporter und Soziologen heraus tief in die dritte Rolle hinein - als Philosophen, die, nicht schwadronierend wortreich, mit allen Sinnen, einschließlich Scharf- und Tiefsinn, uns eine chinesische Urban-Realität präsentieren. Bildlich und bilderreich.
Und für mich persönlich ist die Ausstellung ihres Kunstwerkes umso sehenswerter – dank unserer Zeit, die viele im Westen bereits als „postfaktische Ära“ quittiert haben, eine Ära, in der jede Suche nach Realität, geschweige denn nach tief reflektierter Wahrheit, schon Fake-News bedeutet.
Ein Interview mit Ni Shaofeng in der "Zeit"
China ganz nah
Von Sonnabend an richtet Hamburg gute drei Wochen lang bei der siebten "China Time" den Blick gen Osten. Unter dem Motto "pulse of the city" dreht sich diesmal alles um Urbanisierung, Stadtentwicklung und Zukunftstechnologien. Der Künstler Ni Shaofeng ist mit zwei Ausstellungen beteiligt. Im Kunstprojekt "Neue Acht Szenarien einer Stadt im Digitalzeitalter" hat er sich mit einem Künstlerkollektiv den Entwicklungen der chinesischen Hafenstadt Qingdao angenommen und diese künstlerisch umgesetzt. In einer zweiten Ausstellung wird eine Installation mit 10.000 Origami-Kranichen als Symbol des Friedens gezeigt. Wir haben ihn vorab gefragt, was die Besucher erwartet – und warum sie eingeladen sind, selbst das Kunstfalten zu erproben.
China ganz nah
Von Sonnabend an richtet Hamburg gute drei Wochen lang bei der siebten "China Time" den Blick gen Osten. Unter dem Motto "pulse of the city" dreht sich diesmal alles um Urbanisierung, Stadtentwicklung und Zukunftstechnologien. Der Künstler Ni Shaofeng ist mit zwei Ausstellungen beteiligt. Im Kunstprojekt "Neue Acht Szenarien einer Stadt im Digitalzeitalter" hat er sich mit einem Künstlerkollektiv den Entwicklungen der chinesischen Hafenstadt Qingdao angenommen und diese künstlerisch umgesetzt. In einer zweiten Ausstellung wird eine Installation mit 10.000 Origami-Kranichen als Symbol des Friedens gezeigt. Wir haben ihn vorab gefragt, was die Besucher erwartet – und warum sie eingeladen sind, selbst das Kunstfalten zu erproben.
Elbvertiefung: Für die Ausstellung haben Sie stellvertretend für die Stadt Qingdao und wie sie funktioniert, acht Orte ausgewählt. Wie haben Sie das gemacht?
Ni Shaofeng: Durch eine Art Orakelbefragung. In Qingdao haben wir einen daoistischen Tempel besucht und nach den Anweisungen einer Äbtissin Rituale durchgeführt. Wir haben eine Stadtkarte ausgebreitet und Bohnen ausgeworfen, so wurden durch das Zufallsprinzip 16 Orte ausgewählt, daraus haben wir bewusst acht gewählt, um sowohl die Fremdheit, aber auch die Unbegreifbarkeit von modernen Städten zur Geltung zu bringen.
EV: Qingdao und Hamburg sind beides Hafenstädte. Sind sie sich vielleicht näher, als man auf den ersten Blick denkt?
Shaofeng: Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen Hamburg und Qingdao. Auch weil Qingdao durch seine Kolonialgeschichte eine enge Bindung zu Deutschland hat. In einem Villenviertel der Stadt sind viele Häuser im deutschen Baustil erbaut. Das ist ein chinesisches Blankenese. Und dann natürlich der Hafen. In der alten Stadt findet man viele hamburgähnliche Motive wie die Kräne. Fährt man aber ein Stück weiter raus, dorthin, wo der moderne Hafen entsteht, sieht man die Zukunft.
EV: Wie sieht die Zukunft denn aus?
Shaofeng: Der neue Hafen entsteht dort auf 100 Quadratkilometern. Allein die Ausmaße sind unglaublich. Wenn man dort durchfährt, hat man das Gefühl, in eine utopische Welt einzutauchen. Man sieht nur wenige Menschen, ab und zu eine Maschine, automatisiert fahrende Autos. Es ist unglaublich, welche Zukunft da auf uns zukommt. In Qingdao ist die schon ein bisschen Realität.
EV: Urbanisierung und dynamische Prozesse in China sind die thematische Grundlage der Ausstellung. Weist der künstlerische Blick nach Qingdao auch in das künftige Hamburg?
Shaofeng: Unsere Kunstwerke sollen wie ein Spiegel wirken. Die Hamburger sollen darin ihr eigenes Antlitz wiederfinden. Und dadurch vielleicht auch die schönere Seite von Hamburg entdecken. Eine Megacity, wie sie in Qingdao entsteht, ist faszinierend, aber sie hat auch Kehrseiten, die wir nicht unter den Teppich kehren wollen. Diese Vielfalt und die Widersprüche möchten wir präsentieren. Die Werke sollen zum Nachdenken darüber anregen, was die Zukunft bringt, in welche Richtung wir gehen. Wo geht China hin, und was können wir in Hamburg machen? Wo können wir Prozesse mitgestalten, wo haben wir Möglichkeiten, wo sind Grenzen?
EV: Zum Nachdenken soll auch eine weitere Ihrer Installationen anregen. "10.000 Kraniche freisetzen – Symbol für Frieden" wird am Donnerstag eröffnet. Was hat es damit auf sich?
Shaofeng: Meine ursprüngliche Idee entstand aus der Diskussion darüber, ob Bücher als Wissensträger verschwinden werden. Ich wollte den alten Wissensträgern künstlerisch einen letzten Flug geben. Wie im Buddhismus, wo einmal im Jahr lebende Tiere gekauft und in die Freiheit entlassen werden. Außerdem wohnt den Kranichen eine Friedensbotschaft inne. Es gibt diese japanische Geschichte "Sadako", die besagt, dass ein Mädchen, das die Atomstrahlung krank gemacht hat, anfing Kraniche zu falten, in der Hoffnung, dass sie, wenn sie 1000 Kraniche gefaltet hat, von der Krankheit geheilt wird.
EV: Auch die Besucher sollen Kraniche falten ...
Shaofeng: ... und einer gemeinsamen Sorge und auch Hoffnung eine Gestalt geben. Denn wir Menschen sind eventuell dabei, unsere Zukunft zu zerstören. Deswegen wollen wir mit großer Vehemenz dazu aufrufen, mitzumachen und ein gemeinsames lebendiges Projekt daraus zu machen.
https://www.zeit.de/hamburg/2018-08/elbvertiefung-28-08-2018
Aufbau der Ausstellung in der Handelskammer Hamburg
Die Vorbereitungen für die Ausstellung in der Handelskammer laufen auf Hochtouren.